17/02/2023

Die MESH AG hat das erste Verfahren entwickelt, mit der komplexe Stahlbeton-konstruktionen ohne Schalung hergestellt werden können. Sika und der Schalungs- und Gerüstsystem-Spezialist PERI haben sich 2022 am Spin-off der ETH beteiligt. Gemeinsam wollen die Partner die robotergestützte Technologie im Markt etablieren, wie Ammar Mirjan, CEO der MESH AG, und Carsten Rieger, Corporate Market Development Manager Target Market Concrete bei Sika, im Interview erklären.

World’s first robot-assisted technology that allows complex reinforced concrete structures to be produced without formwork
Image: Die weltweit erste robotergestützte Technologie, mit der komplexe Stahlbetonstrukturen ohne Schalung hergestellt werden können.

In zehnjähriger Forschungsarbeit haben Wissenschaftler unter der Leitung von Ammar Mirjan ein innovatives Verfahren entwickelt, das 3D-Technologie mit Robotik kombiniert: Spezialisten erstellen auf der Basis eines Konzepts oder einer Projektidee ein 3D-Computermodell und wandeln die Daten in einen Maschinencode für die Produktion um. Roboter fertigen danach präzise und schnell sogenannte Stahlgitter für die gewünschte Struktur. Die Module werden auf der Baustelle zusammen¬gesetzt und mit Beton befüllt. Zusatzmittel von Sika stellen dabei sicher, dass der Beton mit normalen Pumpen in den Stahlgittern platziert werden kann und nicht ausläuft. Dank der MESH-Technologie können komplexe Geometrien kosteneffizient hergestellt werden. 

Ammar Mirjan, CEO of MESH AG and Carsten Rieger, Corporate Market Development Manager Target Market Concrete at Sika
Image: Ammar Mirjan, CEO der MESH AG und Carsten Rieger, Corporate Market Development Manager Target Market Concrete bei Sika
Herr Mirjan, Sie haben die MESH-Technologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich mitentwickelt. Wieso haben Sie die Forscherlaufbahn verlassen und sind CEO der MESH AG geworden?

Ammar Mirjan: Als ich an der ETH begann, war unsere Forschungsgruppe um Prof. Matthias Kohler und Prof. Fabio Gramazio ein Pionier im Einsatz von Robotern für den Bau. Die MESH-Technologie ist das Ergebnis intensiver Grundlagenforschung an der Hochschule. Doch bereits während der letzten Jahre an der Hochschule galt mein Interesse dem Transfer: Wie bringe ich ein Grundlagenforschungsprojekt wie MESH in eine industrielle Anwendung? Um die Auswirkung einer Technologie zu ergründen und um die Baukultur nachhaltig mitzugestalten, muss man die Universität verlassen und sich dem Markt stellen. 

Die MESH AG bietet eine Technologie für robotergestütztes Bauen an. Können Sie kurz erklären, worum es geht?

Ammar Mirjan: Wir übersetzen am Computer beschriebene 3D-Datenmodelle in robotisch gefertigte Bauteile. Dank Roboterunterstützung können am Computer beschriebene Modelle eines Gebäudes direkt mit dem physischen Produktionsprozess verknüpft werden. Die Roboter setzen wir ein, um Stahlbewehrungen zusammenzubauen, zu biegen und zu verschweissen, damit aus dem digitalen Modell ein räumliches Objekt entsteht. Zusammen mit Sika haben wir ein spezielles Verfahren entwickelt, so dass die Bewehrungskäfige auf den Baustellen als Schalungen eingesetzt werden können. 

Ammar Mirjan, CEO of MESH AG
"Unsere Roboter fertigen Module an, die auf der Baustelle wie ein Puzzle zusammengesetzt werden." Ammar Mirjan, CEO der MESH AG
Wie entsteht aus den Stahlgittern auf der Baustelle ein fertiges Objekt?

Carsten Rieger: Die Stahlgitter werden auf der Baustelle zusammengesetzt. Danach kommen wir mit einem herkömmlichen Beton auf die Baustelle, der bereits unsere normalen Betonzusatzmittel enthält. Vor Ort verdicken wir das Material mit weiteren Zusatzmitteln, die wir speziell für die MESH-Methode entwickelt haben. Nun kann der Beton mit normalen Pumpen in den Gittern platziert werden und läuft nicht aus. 

Gibt es bei der Bauweise mit MESH-Technologie Einschränkungen bezüglich der Bauteilgrösse? 

Ammar Mirjan: Nein. Mit unseren Robotern fertigen wir transportfähige Module an, die auf der Baustelle wie ein Puzzle in beliebig grosse Strukturen zusammengesetzt werden.

Braucht es spezielles Equipment oder eine Zusatzausbildung, um die MESH-Technologie anwenden zu können?

Carsten Rieger: Weder noch. Wir arbeiten mit normalem Baustellenequipment – neue Werkzeuge oder Maschinen sind nicht nötig. Auch eine Fortbildung braucht es nicht. Wie bei allen Neuerungen braucht es aber zu Beginn etwas Support. Unsere Techniker werden auf den Baustellen sein und den Herstellungsprozess begleiten, bis die Unternehmer die neue Technologie selbst anwenden können.

Ammar Mirjan: MESH erlaubt erstmals die kosteneffiziente Herstellung komplexer Formen. Denn bei der robotergestützten Produktion ist die Komplexität gratis.

Welche Vorteile bietet die MESH-Technologie den Kunden?

Ammar Mirjan: Die Herstellung komplexer Formen ist heute extrem teuer und verursacht viel Abfall, weil man die Schalung nur einmal verwenden kann. Dadurch kommen Sonderformen nur für spezielle Objekte wie Museen oder repräsentative Gebäude infrage. Für viele andere Bauanwendungen sind die Kosten schlicht zu hoch. Die MESH-Technologie erlaubt es erstmals, komplexe Formen effizient herzustellen. In der robotergestützten Produktion spielt es keine Rolle, ob etwas gerade oder gekrümmt ist: Komplexität ist gratis beziehungsweise verursacht keine Mehrkosten. Dadurch erhalten Architekten und Bauherrschaften neue gestalterische Freiheiten.

Carsten Rieger: Wichtig ist, dass es nicht nur um ästhetische, sondern auch um strukturelle Objekte geht – also um tragende Wände oder Decken. Und die Formenfreiheit ist nicht nur ein gestalterischer Gewinn, sondern erlaubt auch materialoptimiertes Bauen. 

Wie viel können Bauherren sparen, wenn sie Sonderformen mit der MESH-Technologie herstellen?

Ammar Mirjan: Sondergeometrien lassen sich mit MESH klar kosteneffizienter herstellen, wie unser Kostenvergleich zeigte. Wir haben mit der MESH-Technologie eine Struktur von vier mal vier Metern mit einer Doppelkrümmung gebaut. Die Kosten lagen rund 50 Prozent tiefer als bei konventioneller Bauweise – bei einer grösseren Struktur würden sie noch weiter sinken. Durch den Wegfall der Schalungen kann zudem viel Abfall gespart werden.

(c) NCCR Digital Fabrication / Roman Keller, Zurich
Image: (c) NCCR Digital Fabrication / Roman Keller, Zürich
(c) NCCR Digital Fabrication / Roman Keller, Zurich
Image: (c) NCCR Digital Fabrication / Roman Keller, Zürich
 
Welche Ziele wollen Sie mit der MESH AG in den nächsten Jahren erreichen?

Ammar Mirjan: Wir haben die MESH AG 2022 gegründet. Nun sind wir daran, eine prototypische Produktionsstätte im Raum Zürich aufzubauen. 2023 wollen wir erste Pilotprojekte umsetzen – zuerst kleinere, später auch grössere. 

Und wie soll sich das Unternehmen langfristig entwickeln?

Ammar Mirjan: Langfristig sehe ich die MESH AG als Vorreiter im Umgang mit Armierungsstahl und Robotern. Wir sind heute die einzigen, die auf Basis eines Computermodells frei im Raum mit Robotern ein 3D-Modell aufbauen. Bewehrungsstahl wird im Hoch- und Tiefbau eingesetzt – entsprechend gibt es ein erhebliches Potenzial für die robotergestützte Fertigung. 

Wie gross ist das Marktpotenzial?

Carsten Rieger: Das globale Marktpotenzial für Spezialschalung, also für gekrümmte oder doppelgekrümmte Formen, beträgt im Hochbau aktuell rund EUR 150 Millionen, wenn man nur den Bereich Neubau betrachtet. Weiteres Potenzial gibt es im Tiefbau und im Bereich Renovation. 

Herr Mirjan, Sie sind jetzt daran, erste Aufträge zu akquirieren. Wie erleben Sie die Nachfrage?

Ammar Mirjan: Das Interesse ist gross, aber es braucht Überzeugungsarbeit und Kunden, die den Mut haben, etwas Neues auszuprobieren. Aus diesem Grund wollen wir mit kleinen Projekten starten, bei denen die Hürden tiefer sind. 

Welche Zielgruppen müssen als erste überzeugt werden?

Carsten Rieger: Architekten, Generalunternehmen, Baumeister, Bauingenieure, Eigentümer und Bauherrschaften sind die wichtigsten Zielgruppen. Im Bereich 3D-Druck haben wir die Erfahrung gemacht, dass es die Architekten waren, welche die Technologie pushten, als sie die damit verbundenen neuen gestalterischen Möglichkeiten erkannten. 

Carsten Rieger, Corporate Market Development Manager Target Market Concrete at Sika
"Sika will dazu beitragen, die MESH-Technologie im Markt zu etablieren." Carsten Rieger, Corporate Market Development Manager Target Market Concrete bei Sika
Warum hat sich Sika an MESH beteiligt?

Carsten Rieger: Zusammen mit der ETH Zürich hatten wir das Ursprungspatent für die Technologie. Dann kam der Schalungs- und Gerüstspezialist PERI ins Projekt, der sich an der Industrialisierung von MESH beteiligen wollte. So entstand das Projekt mit der ETH, PERI und Sika. Für Sika ist MESH ein spannendes, innovatives Projekt im Bereich der Digitalisierung/Automatisierung. Als führendes Unternehmen wollen wir diese Entwicklung ermöglichen und vorantreiben.

Welche kurz- und mittelfristigen Ziele verfolgt Sika mit MESH?

Carsten Rieger: Zum einen wollen wir dazu beitragen, die Technologie im Markt zu etablieren. Wir wollen mit MESH aber auch Umsatz generieren. Die Technologie schafft für Sika interessante Absatzmöglichkeiten für Zusatzmittel, Spritzbeton und die Oberflächenbehandlung.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit zwischen Sika und der MESH AG?

Carsten Rieger: Sika ist einerseits auf der operativen Ebene im Projektteam aktiv: Das Sika Netzwerk kann bei Kundenanfragen mit technischem Support und massgeschneiderten Sika Produkten zur Lösung der Aufgabenstellung beitragen. Anderseits entwickeln wir im Verwaltungsrat die MESH AG strategisch weiter. 

Ammar Mirjan: Für uns ist die Zusammenarbeit mit Sika und PERI auch wertvoll, wenn es um die Skalierung geht. Wenn wir künftig Projekte in anderen Ländern umsetzen werden. 

Ist die Lancierung der MESH-Technologie im Ausland bereits ein Thema?

Carsten Rieger: Die MESH AG ist ein junges Start-up. Unser Fokus liegt zunächst auf der DACH-Region (Deutschland, Österreich, Schweiz). Mit einer gewissen Erfahrung kann die Technologie aber selbstverständlich in weitere Länder exportiert werden. 

Ammar Mirjan: Die Baumaschinenfachmesse Bauma hat gezeigt, dass in den verschiedensten Weltregionen ein grosses Interesse an unserer Technologie besteht. 

Wenn Sie zum Schluss einen Blick in die Zukunft werfen: Wie werden digitale Technologien wie MESH das Bauen verändern? 

Ammar Mirjan: Ich finde es gut und nötig, dass die Digitalisierung und Automatisierung nun auch in der Bauindustrie im Kommen sind. Beides wird die Bauindustrie stark verändern: Es wird neue architektonische Gestaltungsmöglichkeiten und mehr Formenfreiheit geben, und man wird effizienter, materialoptimiert sowie nachhaltiger bauen können. Ich bin sehr optimistisch.

Carsten Rieger: In meinem Tätigkeitsfeld, dem Target Market Concrete, adressieren wir aktuell drei Themen: Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Optimierung. Die Dekarbonisierung und der effiziente Ressourceneinsatz stellen grosse Herausforderungen dar, denen sich auch die Baubranche stellen muss. Im Bereich Digitalisierung/Automa¬ti¬sierung sind viele Lösungen bereits vorhanden – etwa der 3D-Druck oder nun die MESH-Technologie. Es geht jetzt darum, sie in der Bauindustrie zu etablieren. Denn sie helfen uns bei der Optimierung von Abläufen und des Materialeinsatzes. Die Herausforderung besteht darin, dass die Baubranche stark reguliert ist und dass die Vorschriften oft hinter den digitalen Möglichkeiten herhinken. Der grosse Druck, der von Seiten netto-null auf die Baubranche zukommt, könnte die Transformation aber beschleunigen. Wichtig finde ich auch, dass die Digitalisierung dazu beitragen kann, den Fachkräftemangel zu entschärfen und die Attraktivität der Bauberufe zu steigern. Digitale Technologien wie MESH machen die Baubranche deutlich attraktiver.